Wrzl-Blog

Trains, Toons & Rock'n'Roll. And more. And in deutsch. Now. Und jetzt.

3.11.09

Neues vom System™

Das System™. Was ist das eigentlich?
Ich lästere gerne darüber und versehe es noch dazu stets mit einem ™.

Das System™ ist nicht greifbar, trotzdem ist es allgegenwärtig. Es versucht dich fortwährend in seinen Sog der Gleichförmigkeit, Angepasstheit und Alles-Kopfnickend-Zugestimmtheit zu zerren.
Du darfst eine eigene Meinung vertreten. Mit Glück verhallt sie ungehört. Mit etwas weniger Glück wirst du schief angeschaut und mit ganz wenig Glück wird dir mehr oder weniger unmissverständlich klar gemacht, wie weltfremd deine Ansichten sind, wie unlogisch™ du handelst oder es einfach generell nicht mehrheitsfähig ist und daher von vornherein nicht ernst zu nehmen ist. Kreativität wird zwar nicht per se als schlecht angesehen, sie macht aber Angst, weil sie wenig berechenbar ist und damit einen Eingriff in alle wohlgewonnene Gleichförmigkeit darstellt, indirekt also doch wieder "böse" ist.

Von dir wird vom System™ die vollkommene Flexibilität, Untergebenheit und hundertprozentige Verfügbarkeit gefordert, es selber ist aber eine Ausgestalt von bornierter Schwerfälligkeit. Dein Privatleben hast du zugunsten des Systems™ auszublenden, sobald es dies als irgendwie notwendig erachtet. Besser noch, du gibst es vollständig auf. Es macht sowohl für das System™ als auch für dich das Leben einfacher und planbarer, weil du gleich von vornherein die richtigen Prioritäten setzen kannst. Eventuell noch freie Zeit kannst du immer noch mit dem geflissentlichen Anstarren der Südwand ausfüllen, sofern du ob all der stromlinienartigen Langeweile dein Glück nicht ohnehin schon auf alkoholischem oder sonst wie drogalem Wege suchst.

Seit bald 10000 Tagen (= ~27 Jahre) wehre ich mich mehr oder minder erfolgreich gegen das System™. War es zu Kindertagen noch unbewusst und mir selber eher peinlich, artet es seit der Teenagerzeit immer weiter aus zu einem aktiven Kampf, durchaus gepaart mit einem gewissen Stolz darüber. Ich höre nun mal kein Hitradio, hechle keinen Modetrends hinterher, finde Ausgang, Zigaretten, Alk & Co. hirnlos und bescheurt, habe derzeit keine Ambitionen auf eine glückliche Familie mit spießigem Einfamilienhaus und Gärtchen irgendwo in der Agglomeration, finde Urlaub in Moldawien spannender als auf Mallorca, usw. ... Grundsätzlich will ich einfach nur meine Ruhe, von gelegentlichem Kontakt mit mir wohlgesonnenen Personen mal abgesehen.

Seit einiger Zeit arbeite ich zu 100% (auch so ein grauenhafter, das gesamte Leben einnehmender Begriff, für dessen In-Frage-stellen man aber auch schnell böse Blicke erntet) für das System™. Nun habe ich vermutlich trotz allem einen der angenehmsten Brötchengeber als Ausbildungsstätte ergattert, über die aktuellen Arbeitsbedingungen kann und will ich auch überhaupt nicht klagen (sehr wohl aber über jene einiger Kollegen in meinem persönlichen Umfeld - aber anderes Thema...). Was einem dann aber in diversen Einführungstagen und überbetrieblichen Kursen immer wieder an den Kopf geworfen wird, ist nach kurzer Zeit des mentalen Sacken-lassens haarsträubend.

Auf einmal werden lieb gewordene Werte in Frage gestellt, die man a) eigentlich mit gesundem Menschenverstand ausreichend umschreiben könnte und b) so auch von seiner Firma erwartet hätte.

So sei zum Beispiel die "Kundensegmentierung" von enormer Wichtigkeit. Angeblich um aufgrund dieser Analyse das entsprechende Gegenüber gleich "korrekt" beraten zu können. Diese Segmentierung geschieht fast ausschließlich anhand von Äußerlichkeiten (trägt die Person einen Aktenkoffer bei sich, welche Hautfarbe / welche Sprache spricht sie, weist ihre Adresse auf eine wohlhabende Gegend oder stammt sie aus einem "sozialen Brennpunkt™", zieht sie ein Bein nach, welches ist ihre präferierte Sexualstellung, etc.). Was hindert die wohlhabende rüstige 80-jährige Oma bitte daran, täglich zum morgentlichen Joggen AC/DC zu hören und trotz ihres dicken Bankkontos nicht an der Zürcher Goldküste sondern in Kleinhüningen zu wohnen? Hat der 16jährige Hip-Hopper nicht eventuell auch Lust, mal 1. Klasse zu fahren und wenn es nur ist, um später vor seinen Homies zu posen, mit was für geilen reichen Bitches er gestern rumgebrettert ist? Und hat ein Mensch, der nur auf Englisch sein Halbtax-Abo (BahnCard 50 der Schweiz) erneuern will, nun als "Pendler", "Tourist" oder "Familienvater" behandelt zu werden?
Wie auch immer, es muss wohl heißen: Vorurteile sind gut!

Ebenfalls schlecht wird mir bei den Richtlinien, wie man sich gegenüber einem Kunden zu präsentieren hat. Individualismus ist out, man hat sich komplett den schwuppigen Ideen einiger CI-Stylisten zu unterwerfen. Tattoos sind böse und gehören überdeckt, Piercings sind böse und gehören dematerialisiert, 3-Tage-Bärte sind böse und gehören rasiert oder sofort durch einen ordentlichen Bart ersetzt... Schlimmer soll es aber an einem bekannten Flughafen zugehen, wo für das weibliche Personal schminken in einem fix festgelegten Maße sowie Rock und Schuhe mit Absätzen PFLICHT sein soll. Verbiegung in Reinkultur zum Wohlgefallen einiger Marketingheinis!
Kann ich so ein Unternehmen noch ernst nehmen, wo mir die Mitarbeiter etwas vorspielen müssen? Ich muss. Denn etwas anderes passt nicht zum System™ und nur so kann es in seiner kontinuierlichen Selbstbesamung fortexistieren.

Noch weiter nachgedacht, schaukelt sich der Irrwitz zum Höhepunkt, wenn man sich den vorvorherigen Absatz in Erinnerung ruft, wie man auf die vielen verschiedenen (!) Kundentypen eingehen soll! *ARGH*

Heftig nur, dass all dies auch brav ohne Rückfragen hingenommen wird.
Ich behaupte einfach mal, dass ich gängigen Umgangs- und Präsentationsformen durchaus entsprechen kann, dies aber bitte nicht aufgezwungen, dafür angereichert mit meinem Humor und meiner ureigensten Art (wer diese nun mag oder nicht). Weiterhin und bis in alle Ewigkeit. Zumindest vorläufig.

Um es also mit den Worten der guten alten "Sterne" zu sagen und mir damit wohl endgültig den letzten Eintritt in einen künftigen Stromlinien-wir-sind-alle-gleich-und-finden-uns-dabei-unglaublich-supi-Job zu verbauen (so denn ein Personalchef dieses Blog hier googlet und findet):

FICKT DAS SYSTEM™!

Danke.

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