Wrzl-Blog

Trains, Toons & Rock'n'Roll. And more. And in deutsch. Now. Und jetzt.

7.9.11

Fahren mit Klasse

Ich gebe es zu. Vor einem Monat habe ich mich der Oberschicht im eisenbähnlerischen Klassenkampf anschließen lassen und zähle nun zur Glaubensrichtung der 1.-Klasse-GA-Inhaber (für Unwissende: GA = Generalabo = Jahreskarte für praktisch das gesamte ÖPNV-Netz der Schweiz). Nun fahre ich seit 1993 fleißig im Schweizer Bahnnetz hin und her, habe dies aber fast ausschließlich in der 2. Klasse getan. Liebgewordene Gewohnheiten galt es über den Haufen zu werfen und als 1.-Klasse-Reisender hat man bisweilen auch seine Luxusproblemchen... Eine Zwischenbilanz:

Neue Wandermöglichkeiten
Als 1.-Klasse-Fahrgast läuft man mehr. Während sich dem 2.-Klasse-Fahrgast gewöhnlicherweise nach maximal 4 Wagen auch ein für ihn passender Wagen findet, hängt in manchen Zügen der bisweilen einzige 1.-Klasse-Wagen auch irgendwo am anderen Zugsende. Wagenstandanzeiger und elektronische Ansagen sind für mich seither unverzichtbarer Bestandteil vor jeder Zugfahrt geworden.

Fies sind nun auch Reisen ins Ausland, etwa wenn ich in Basel den ICE Richtung DB-BAHN-Land setze und mit dem 2.-Klasse-Weltmeisterinnen-Pass bereits aus Gewohnheit in der falschen Klasse einsteigen will.

Sitze
Ja, in der 1. Klasse gibt es weniger Sitzplätze mit dafür meist mehr freien Plätzen. Meist sind diese auch ein ordentliches Stück bequemer. Aber auch dort habe ich mittlerweile Wagen, die ich gerne meide. Die Sitze in den EW IV (unter den Einstöckern immer noch das Rückgrat des SBB-Fernverkehrs) sind eine ergonomische Katastrophe. Kopf und Rücken finden einfach keine zufriedenstellende Positionierung. Und ausgezogen wirken diese Sitze gar nur noch als läge man auf einem schiefen Bügelbrett. Meine Lieblingssitze habe ich indes in den IC2000-Doppeldeckern gefunden. Ergonomisch geformt, gemütliche Kopffunktion und ausgezogen lässt es sich herrlich zurücklehnen und abschalten. Ein Segen sind auch die Abteilsitze in den ICN-Zügen, jedoch wirken die dortigen Lederbezüge fensterseitig teilweise schon recht abgehalftert und durchgesessen. Stört mich grundsätzlich nicht, aber wirkt halt... unschön.

Eine ausgemachte Frechheit leisten sich die SBB dafür neuerdings im Regionalverkehr. Die zu so genannten Dominos umgebauten NPZ-Kompositionen sind in der 2. Klasse sicher ein Komfortsprung, die 1. Klasse ist hingegen ein ausgemachter Witz. Härtere Sitze als in so manchen 2.-Klasse-Wagen und teilweise eine Sitzanordnung, das man schreien möchte. (Fensterrahmen vorm Gesicht, Längssitze)

Konträre zwischenstädtische Welten
Neuerdings darf ich täglich von Basel oder Zürich nach Bern tingeln. Der Hauptgrund, warum ich mir dieses 1.-Klasse-Plastikkärtchen ausgesucht habe. 8-Uhr-Zug Zürich - Bern. 1. Klasse: proppenvoll mit Notebooks, Aktentaschen, Anzügen und mutmaßlichem Gemensche dazwischen. Vorlaufen in die 2. Klasse bis zum zweitvordersten Wagen. Halber Wagen leer mit herrlich Platz um sich mit Rucksack und Notebook auszubreiten. Was mein eigentliches Anti-Klassendenken anbelangt: Top! Was den Hauptgrund für den 1.-Klasse-Kauf anbelangt: Epic FAIL!

Blicke am Abend... und am Morgen
Ich fahre 1. Klasse, kleide mich aber meist irgendwo zwischen 2. Klasse und Gepäckwagen. Ein klein wenig aus Protest, ein bisschen mehr aus Faulheit, hauptsächlich aber aus einer gesunden LMAA-Mentalität heraus. Fiese Blicke von alten Damen und Anzugträgern sind also programmiert. Zwar blieb mir bisher die "Sie, das ist dann 1. Klasse"-Attacke erspart, welche einigen meiner jüngeren Arbeitskollegen regelmäßig entgegengeschleudert wird, kritische Bemusterungen bleiben aber. Die Kopfhörer im Ohr und der Schlabberrucksack tragen dabei nicht wesentlich zur Verbesserung der Situation bei.

Eingeschworenes Passagiergrüppchen
Bei aller Kritik an diesem Verhalten, ist die 1.-Klasse-Fahrgastfraktion meist gar nicht so schlimm. Es wird häufiger gegrüßt und verabschiedet und nach der Freiigkeit des gewünschten Platzes gefragt. Auch meine anfängliche Angst, man würde sich ständig über meine, zugegeben, nicht schalldichten Kopfhörer beschweren, hat sich in Luft aufgelöst. Das Gros dieser Reisenden steckt sich ebenso seine iPods in die Ohren. Es herrscht eine Art eigene, aber durchaus zuvorkommende und wohlwollende Umgangskultur zwischen 1.-Klasse-Reisenden. Und vereinzelte schwarze Schafe gibt es hier wie dort.


Fazit: Wie eingangs erwähnt, es sind Luxusproblemchen. Eigentlich stören sie nicht mal, sie fallen aber soweit auf, dass es reicht, hier ein Blogposting zu füllen. Und ich störe mich auch nicht, wenn kurz vor Zürich HB eine kleine Menschentraube aus der 2. Klasse in den vordersten Wagen läuft, um gleich vorne am Prellbock aussteigen zu können (habe ich früher anschlussbedingt auch gemacht). Ebenso wenig Probleme habe ich, wenn mal wieder - selten genug - ein 1.-Klasse-Wagen zur 2. Klasse deklassiert wird, was offenbar immer wieder zu Entrüstungen seitens der 1.-Klasse-Fraktion führen soll. Finde ich bescheuert, da in aller Regel zusätzliche Wagen angehängt werden und der nörgelnden Elite keine weggenommen werden.

Geholt habe ich mir das 1.-Klasse-GA in erster Linie um eben den überfüllten Zügen von und nach Bern einigermaßen entzufliehen™. Zumindest morgens finde ich mich nun ulkigerweise eher in der leereren 2. Klasse wieder, was mich aber auch nur wenig stört. So behält man auch weiterhin noch halbwegs den Blick zur "Basis". ;-) *muhaha*

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